Hessisches Ministerium für Digitalisierung und Innovation

Bürgerbeteiligung in der Smart City: Pflicht oder Kür?

NEWSLETTER September 2024 - Leitartikel Seite 2
Dr. Carsten Mauritz, Stadt Kassel

Abbildung "Co-Smart-Strategieprozess": (c) Stadt Kassel / Illustration: Daniel Stieglitz

Im Folgenden werden Wege in die Beteiligungspraxis aufgezeigt und diejenigen Formate vorgestellt, die sich in der Smart City Kassel und darüber hinaus bewährt haben. Dabei steht die Beschreibung einzelner Formate im Fokus und weniger die praktische Prozessausgestaltung. Die Beispiele sollen Kommunen dabei helfen, ihre Bürgerbeteiligung gut zu organisieren.

Zuallererst: Auf die innere Haltung kommt es an!

Der Erfolg informeller Bürgerbeteiligung – denn darum soll es im Weiteren gehen und nicht um die gesetzlich vorgeschriebene, wie zum Beispiel im Rahmen von Bebauungsplanverfahren – ist stark von der inneren Haltung der Beteiligten aus Politik und Verwaltung geprägt. In vielen kommunalen Aufgabenfeldern sind Bürgerinnen und Bürger Serviceempfänger und kundenorientiertes Verwaltungshandeln längst der Standard. Das ist gut und richtig. Die Beantwortung komplexer kommunaler und transformativer Fragestellungen, bei denen es nicht nur die eine richtige Lösung gibt, setzt jedoch eine Rollenerweiterung vom Für zum Mit voraus. Es geht darum, die Bürgerinnen und Bürger zu aktiv Mitgestaltenden ihrer Stadt zu machen. Damit ändert sich die Beziehung zwischen Bürgerschaft und Verwaltung dahingehend, dass Bürgerinnen und Bürger mitverantwortliche Träger der (digitalen) Stadtentwicklung werden und sich das Verwaltungshandeln noch stärker gegenüber der Stadtgesellschaft öffnet. Dafür braucht es aufseiten der Verwaltung eine dialogische Grundhaltung, die unterschiedliche Perspektiven anerkennt und mögliche Interessensgegensätze austariert. „Co-Smart“ lautet in Kassel das Prinzip der Zusammenarbeit, das bei der Erarbeitung der Kasseler Smart-City-Strategie ebenso wie bei der Umsetzung laufender Projekte handlungsleitend war und ist.

Tote Winkel ausleuchten

Viele Beteiligungsformate sind auf die Ansprache von Interessenvertretenden ausgerichtet oder in der Methode selbstselektiv angelegt, indem die Verwaltung öffentlich zur Beteiligung einlädt. Das Ergebnis ist in aller Regel eine Prägung durch die „üblichen Verdächtigen“; relevante Positionen in der Stadtgesellschaft werden nicht abgebildet. Ein Format, das genau diese Überprägung aufbricht, ist der Bürgerrat. Seine Besonderheit: Die Auswahl der Bürgerinnen und Bür­ger erfolgt zufallsbasiert per Los. In der Stadt Kassel wurde er erstmals im Herbst 2022 einberufen, um den aktuellen Stand und die inhaltliche Ausrichtung der Smart-City-Strategie zu reflektieren und Projektideen zu diskutieren. In einem ersten Schritt wurde eine Stichprobe aus dem Kasseler Melderegister gezogen, die verschiedene Altersgruppen, Geschlechter und Stadtteile enthielt. Diese Stichprobe umfasste 1656 Bürgerinnen und Bürger. Sie wurden postalisch angeschrieben und gebeten, ihr Interesse an der Mitarbeit über eine Online-Anmeldemaske zu bekunden. Bei der Rückmeldung wurden neben den Kontaktdaten weitere Kriterien abgefragt, etwa der Bildungsabschluss und Migrationshintergrund. Aus der Gruppe der Interessierten wurden insgesamt 30 Bürgerinnen und Bürger per Zufallsalgorithmus so ausgewählt, dass sie möglichst genau die Kasseler Stadtgesellschaft repräsentieren. Weitere Informationen zur Methodik, zum Ablauf und den erarbeiteten Ergebnissen des Kasseler Bürgerrats finden sich in Form eines Gutachtens hier.

In die Quartiere eintauchen

Im Stadtteil spielt sich das alltägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich ab. Viele Stadtteile haben ganz eigene soziale, wirtschaftliche, ökologische und städtebauliche Gegebenheiten, die das Zusam­menleben im Quartier prägen. Um diese lokalen Besonderheiten und vielfältigen Bedürfnisse der Bewohnenden auf dem Weg zur Smart City zu berücksichtigen, hat das Smart Kassel Büro gemeinsam mit der Universität Kassel und Studierenden des Fachbereichs Archi­tektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung in ausgewählten Stadt­teilen Zukunftsworkshops durchgeführt. Ihr Ziel bestand darin, auf Grundlage stadtteilspezifischer Analysen gemeinsam mit unterschiedlichsten Akteuren und Netzwerken vor Ort eine Change-Story zu entwi­ckeln, die ein konkretes Zukunftsbild und Ge­staltungsoptionen für smarte Quartiere aufzeigt. Wie das methodisch funktioniert und was das für die ausgewählten Stadtteile bedeutet, ist hier nachzulesen.

Auch in der Umsetzungsphase lohnt sich ein genauer Blick! Ein aufsuchendes Format, das die Menschen niedrigschwellig in Smart-City-Themen einführt, ist das Infomobil des Smart Region Hubs Bad Hersfeld. Das im Rahmen des Landesprogramms „Starke Heimat Hessen“ geförderte Fahrzeug informiert vor Ort über den Nutzen von künstlicher Intelligenz, den Mehrwert eines digitalen Zwillings, die Einsatzoptionen neuster Sensortechnik und vieles mehr. Das gilt in gleicher Weise für das Smart Age Mobil der Stadt Kassel. Es richtet sich an alle, die bisher wenig Berührungspunkte mit der digitalen Welt haben. Indem Digitalisierung generationsübergreifend – von Jugendlichen über junge Familien bis hin zu Seniorinnen und Senioren – gedacht und mit einer aufsuchenden Beratung im Quartier verknüpft wird, fokussiert das Smart Age Mobil stark auf den Alltagsnutzen für Menschen. Der Vorteil beider Maßnahmen besteht vor allem darin, dass sie durch Geh-Strukturen die Teilnahme beteiligungsferner Gruppen fördern.

Experimentierräume schaffen

Viele Smart-City-Anwendungen befinden sich im Stadium der Erprobung. Gefragt sind daher Testumgebungen, also räumlich begrenzte Areale oder auch Gebäude, in denen bestimmte Technologien unter realen Bedingungen und mit direkter Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer angewandt werden können. Schnell fällt dann das Wort Reallabor. Genau so ein Ort ist das Werra-Meißner-Lab. In dem vom Land Hessen geförderten und als Smart Region Hub ausgezeichneten Multifunktionsraum können Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Wissenschaft eigene Ideen einbringen, an Projekten teilnehmen und selbst welche anstoßen. Zum Ausprobieren lädt auch das Sensorik-Reallabor AUREA am Kasseler Auedamm ein. Hier werden smarte Techniken für die ganze Stadt erprobt. Derzeit werden Sensoren rund um das Auebad eingesetzt, die zum Beispiel den Pegel der Fulda, die Feuchte im Wurzelbereich der Bäume sowie die Zahl und Größe der Fahrzeuge am Auedamm messen. Experimentierfreudige Bürgerinnen und Bürger können eigene Sensoren anschließen, Messdaten ermitteln und in die AUREA‐Architektur einspielen.

Beide Formate zeigen, wie gemeinsam an zukunftsfähigen, praktikablen Lösungen (für realweltliche Herausforderungen) gearbeitet werden kann – und das im Dialog auf Augenhöhe. Reallabore gehen damit als Format über die informative Beteiligung hinaus; Bürgerinnen und Bürger werden als „Experten vor Ort“ verstanden und in dieser Rolle gestärkt.

Und zuallerletzt?!

Fest steht, dass es gut gemachte Beteiligung nicht zum Nulltarif gibt. Als Herausforderung bei der Umsetzung sind insbesondere der personelle Aufwand bei der Verwaltung und die mitunter hohen Anforderungen an das Verfahrensdesign zu nennen. Bürgerbeteiligung ist kein „magical tool“, sondern vor allem eins: harte Arbeit. Aber der Aufwand lohnt sich: Im Kasseler Smart-City-Prozess hat die Beteiligung dazu beigetragen, das Profil als sozial-digitale Stadt zu schärfen und die Maßnahmen noch enger an den Bedürfnissen der Stadtgesellschaft auszurichten. Dazu gehört auch, die Grenzen der Beteiligung aufzuzeigen – wo liegen Spielräume, was ist verhandelbar und was aus welchen Gründen nicht? Denn Beteiligung ersetzt nicht die Entscheidungskompetenz von Rat und Verwaltung. Entscheidend ist, dass die aus der Stadtgesellschaft heraus formulier­ten Beteiligungsanliegen mit den Sichtweisen aus Politik und Verwaltung zusammengebracht werden – für ein gemeinsames Verständnis davon, wie die smarte Stadt von morgen aussehen soll. Diese kombinierte Vorgehensweise findet einen Weg zwischen Top-down („von oben nach unten“) und Bottom-up („von unten nach oben“) in der Strategie- und Maßnahmenentwicklung.

Dieser Öffnungsansatz ist insofern konsequent und angezeigt, als neue Technologien nicht zwingend „intelligent“ sind. Sie werden in der Regel erst wirksam, wenn sich die Menschen in ihrem Handeln auf sie beziehen und sie nutzen (oder auch nicht). Die Rede ist dann von sozialer Innovation im Sinne einer Neukombination sozialer Praktiken. Ohne diese Einbettung in das Handeln laufen technische Innovationen oft ins Leere. Damit das nicht passiert, bedarf es aufseiten der Nutzenden digitaler Kompetenz im Umgang mit und Akzeptanz gegenüber neuen Anwendungen. Beides kann durch Beteiligung und positive Nutzungserlebnisse gesteigert werden. Kurzum: Technik allein reicht nicht.

Damit ist auch die eingangs gestellte Frage nach Pflicht oder Kür beantwortet: Das, was eine Stadt „smart“ macht, sind die Menschen, die in ihr leben und wirken. Das Konzept der Smart City steht und fällt damit, wie souverän sich die Menschen durch die digital geprägte Welt bewegen und ihre Stadt aktiv mitgestalten können. Bürgerbeteiligung sollte also Pflicht sein – damit die Smart City mehr ist als inklusive Rhetorik.

Die Stadt Kassel wurde als eine von bundesweit 73 Kommunen für das Programm Modellprojekte Smart Cities ausgewählt. Damit fördert die Bundesregierung die digitale Modernisierung der Kommunen.



Modellprojekte Smart Cities

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